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Bietschhorn-Überschreitung

Bietschhorn

Mountaineering/Alpine
ZS+, 4a
Date of tour
22.9.2019
Tour started at
04:08
Tour finished at
19:56
Active time in hours
15.5 hrs
Distance in km
14 km
Ascent
1550 m
Descent
2800 m
Lowest point
1544 m
Highest point
3934 m
mountain (alpine)
Bietschhorn 3934 m
glacier
Üssre Baltschiedergletscher
Uistre Stampbachgletscher
Bietschgletscher
Nestgletscher
valley
Baltschiedertal
Bietschtal
building
Baltschiederklause SAC 2783 m
Bietschhornhütte 2595 m
city/place
Ried 1486 m

Der Wecker klingelt. Habe ich geschlafen? Nicht viel, eigentlich viel zu wenig. Und dennoch bin ich sofort wach, ich will los, will mich hineinstürzen in diese grandiose Tour. Ich schaue aus dem Fenster: Das klare Himmel ist dahin, das Horn hängt in einer dicken Wolke. Es ist neblig. Seis drum. Richtig schlechtes Wetter ist nicht angesagt. Wir freuen uns aufs Frühstück, geniessen das Brot und das Müsli, packen unsere Sachen, verabschieden uns von einer der nettesten Hüttenwartinnen dieser Welt, und gehen hinaus in die milde Nacht.

Zunächst geht es über Felsen und Blockgelände bis zum Gletscher. Der Weg ist durchgehend mit Katzenaugen und weissen Markierungen versehen. Schales Mondlicht begleitet uns, ausser uns ist niemand unterwegs. Nur wir. Wir und der Berg, irgendwo da vorne.

Dann die letzte Markierung an einem dicken Brocken: „Good luck“ steht da. Von nun an sind wir auf unsere Intuition und die Karte angewiesen. Der Gletscher ist komplett aper, die Spalten alle sichtbar. Wir gehen seilfrei, suchen uns unseren Weg durch das Labyrinth, umgehen die Gräben oder hüpfen darüber. Ein bisschen Zick Zack, kein Problem.

Nach knapp zwei Stunden sind wir irgendwo in der Nähe der Einstiegsfelsen. Der Firn ist hier schon steil geworden und wird nach oben immer steiler. Sind wir hier richtig? Diese Rippe sah von der Hütte noch gut einsehbar aus, aber von hier ist es ein riesiger Blockhaufen, der dutzende Meter über uns aufragt. Es ist zu dunkel, um mehr zu sehen, die Sonne geht erst in einer halben Stunde auf. Laut GPS sind wir ungefähr am Einstieg, haben aber schon die Befürchtung, dass wir etwas zu weit gegangen sind. Sind wir auch. Es ist hier alles etwas anders als man es aus der Karte erkennen kann. Shit!

Also hin zum Felsen. Irgendwie kommen wir da schon durch. Der Firn hört plötzlich auf, nun stehen wir auf Blankeis. Hartem Blankeis. Die Felsen sind nur 15 Meter entfernt. Easy, oder? Nach ein paar Metern auf Frontalzacken wird mir klar, dass das hier kein Spass mehr ist. Ich hämmere den Pickel in das Eis. Ich sehe Funken, vermutlich einen Stein getroffen. Ich weiss, dass meine Steigeisen nicht für so etwas gemacht sind. Nicht steif und nicht aggressiv genug. Ich stehe nicht gut, schaue nach unten, das Mondlicht erhellt eine steile Flanke. Mein Fuss rutscht plötzlich ab, ich halte mich gerade so an meinem Pickel, dessen Haue 2 Millimeter im Eis steckt. Ich werde nervös, eine leichte Panik durchquert meinen Körper. Was jetzt?

Es ist so dunkel hier. Meine Stirnlampe ist ausgegangen. Warum? Ich hänge an 3 Zacken im Blankeis und weiss nicht, was ich tun soll. Ich fluche kurz, meie sch**s Lampe geht nicht mehr an - das kann doch nicht wahr sein! Ruhe! Durchatmen! Innehalten!

Jan steigt vor, er ist routiniert genug, um das hinzubekommen. Er will mich von oben nachsichern. Ich sehe ihm nach, wie er direkt über mir hinauf steigt. Ich schaffe es, meine Stirnlampe wieder an zu kriegen, suche nach einem besseren Stand mit den Füssen, doch es gelingt mir nicht. Meine Beine fangen an zu zittern. Was, wenn Jan da oben ausrutscht? Er wird auf mich fallen, mich mitreissen…. nicht daran denken!

Ruhig bleiben. Was mache ich in so einem Fall? Mich selbst sichern natürlich! Meine linke Hand umgreift fest den Pickel. Meine rechte sucht sich den Weg zu meinem Gurt. Die Eisschraube, ganz hinten rechts. Wo ist die verdammte Schraube? Ich finde sie, kriege sie nicht aus dem Karabiner raus. Ruhig bleiben. Durchatmen. Die Beine beruhigen sich wieder. Noch ein Versuch. Ich habe die Schraube in meiner Hand, setze sie in das Eis und drehe sie behutsam hinein. Sie greift. Eine Exe wäre jetzt gut. Ich habe keine, Jan hat das ganze Kletterzeug. Aber eine Bandschlinge habe ich. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich meinen Gurt mit der Schraube verbunden habe. Währenddessen fallen immer wieder kleine Eisbrocken von oben auf meinem Helm, die von Jans Eisen losgetreten werden. Meine Stirnlampe geht schon wieder aus. Fuck!

Dann bin ich gesichert und atme auf.

Ich sehe nach oben. Jan hat die Felsen erreicht und baut einen Stand. Ich bin sowas von erleichtert. Kurz darauf kommt das Seil, ich binde mich ein und steige das Blankeis hinauf. Als ich meinen Fuss auf die Felsen setze, fühle ich mich wie ausgewechselt. Die ganze Nervosität ist dahin. Und obwohl der Fels hier sehr brüchig ist und sich ganze Brocken aus dem Granit lösen, sobald man hineingreift, fühle ich mich wieder sicher. JETZT kann es endlich losgehen!

Wir klettern vorsichtig durch den losen Schutt, immer darauf bedacht, dass der untere nicht vom Steinschlag erwischt wird, den der obere lostritt. Nach ein paar Dutzend Metern sieht Jan ein Steinmännchen. Wir haben den richtigen Weg gefunden. Yes!

Kurz darauf stehen wir am Anfang des berüchtigten Firngrates. Wenn hier gute Verhältnisse herrschen, kann man im Trittschnee bis nach oben gehen. Wenn wie jetzt nicht so gute Verhältnisse herrschen, nimmt man das, was man kriegen kann. Wir sind furchtbar erleichtert, als wir kein Blankeis wie unten antreffen, sondern eine Auflage, die gut zu gehen ist. Die Sonne geht auf. Wir sehen immer mehr von der Umgebung. Ja, der Berg ist immer noch in der Wolke. Jan fragt mich, was ich vom Wetter halte. „Sieht gut aus“ meine ich. Ich will da hinauf!

Wir sind bereits auf 3600m Höhe. Ich bin nicht ganz so gut akklimatisiert wie Jan und muss immer wieder kurz stehen bleiben, um durchzuatmen. Dann erreichen wir die Randfelsen. Ich liebe Felsen, habe ich das schon erwähnt? Das Gelände enthält zwar immer noch viele lose Brocken, aber die Kletterei darin ist einfach. Da niemand unter uns ist, räumen wir noch etwas auf, steigen zügig und ohne Zeit mit Sichern zu verschwenden weiter, rund 100 hm hinauf. Jan geht noch ein Stück im Firn, ich bleibe lieber im Fels. Ganz oben dann, kurz vor dem Ende des Firngrates, kommt noch einmal ein 5 Meter langes, blankes Stück Eis - nicht mehr ganz so „wüst“ (Lieblingsausdruck von Jan) wie unten, aber nichts für mich, nicht mehr. Jan rettet mich auch hier hinüber. Danke!

Ein bisschen gehen wir noch auf dem Grat. Links und rechts geht es bedrohlich und weit hinunter in die Tiefe. Es ist noch immer neblig und der Fels ist überzogen von einer dünnen Schicht aus Eis und etwas Schnee. Was machen wir hier eigentlich?

Kurz darauf wird der Grat noch ausgesetzter und schärfer. Jetzt nehmen wir unsere Halbseile vom Rucksack. Ich höre ein metallisches Klacken, sehe einen Gegenstand, der die Ostwand hinunter fällt. Tock, tock, tock - Jans Pickel veschwindet im Nichts. Er hatte vergessen, dass er das Gerät zwischen den Rucksackschlaufen geparkt hatte, und als er diesen abnimmt, ist es zu spät. Konsterniert sieht er dem teuren Eisen nach. „Zum Glück brauche ich ihn jetzt nicht mehr“, kommentiert er kühl. Und ich bin froh, dass er mich daran erinnert, denn auch ich hätte beim Absetzen des Rucksacks meinen Pickel dahinter vergessen.

Wir binden uns ein. Etwa 20-30 Meter bleiben zwischen uns, wir gehen am gleitenden Seil. Die Steigeisen lassen wir an, in den Bergschuhen allein hätten wir auf den glitschigen Felsen wenig Halt.

Vier Stunden sind wir nun unterwegs. Mittlerweile bin ich voll motiviert, fühle mich sicher, all die Nervosität ist verflogen. Die haarige, aber leichte Kletterei macht verdammt viel Spass. Ab und zu passiert es sogar, dass der Wind die Wolke weg weht und wir einen Blick in die Umgebung und in die Tiefe erhaschen können. Ja, meine Finger werden immer wieder sehr kalt, wenn ich stehen bleibe und warte, bis Jan die nächste Zwischensicherung gelegt hat. Ja, der Wind ist teils recht eisig hier am Nordgrat, aber ich beisse mich durch. Die Daunenjacke hole ich jetzt nicht noch raus, immerhin ist gleich Tag!

Bald erreichen wir den ersten von drei Türmen, die es zu erklettern gilt. Erster Eindruck: Sieht eigentlich nicht so schwer aus das Ding. 4a soll das sein laut Topo. Im alpinen Gelände ist 4a schone eine Nummer, nicht zu vergleichen mit einer 4a in der Halle oder im Klettergarten. Heute schon gar nicht, denn heute liegt auf allen Griffen und Tritten dieses glitschige Eis-Zeug und wir klettern in Steigeisen. Heute ist hier Mut gefragt, trotz der guten Absicherung mit Bohrhaken.

Jan steigt ein. „Wüst“, sagt er wieder. Für die Hände gibt es nur Aufleger. Sie rutschen ab. Jans Eisen kratzen über den Fels - dann macht er den Zug. Sein rechtes Knie hebt er an bis über die Hüfte, schafft es auf einen kleinen Absatz. Dann noch zwei, drei Manöver, und er ist oben. Yeah.

Ich komme nach. Jan sehe ich nicht, er ist irgendwo dort oben hinter der nächsten Ecke. Ich versuche dasselbe wie Jan. Geht nicht. Ich schaffs nicht. Das kann doch nicht wahr sein! Ich werde doch nicht hier an einer 4a scheitern! Immer wieder versuchen meine Hände einen guten Griff zu finden, etwas an dem ich mich festhalten und hochhieven kann. Doch da ist nichts. Nach fünf Minuten Rumprobieren bitte ich Jan, mal kräftig zu ziehen. Uff! Mann!

Der nächste Turm ist einfacher, laut Führer nur eine 2, aber eigentlich ist das kurz eine 3. Macht nichts. Geht.

Der dritte Turm ist dann die Schlüsselstelle. Eisig, plattig, stramm steht er da. Bei trockenem Fels ist er vermutlich ein Genuss. Dann, wenn die Finger auf dem griffigen Granit guten Halt finden. Dann, wenn die Bergschuhe schön sauber auf den Leisten stehen. Jan steigt wieder ein. Schon der erste Zug ist haarig - „Sehr wüst“. Ich stelle mir vor, was passieren würde, wenn er fiele… nein! Nicht solche Gedanken. Er hat das drauf.

Hat er auch. Routiniert steigt er nach oben, baut den Stand auf, ich komme wieder nach. Bei besagter Stelle fühle ich mich wie ein kompletter Versager, als hätte ich noch nie geklettert. Ich verkante mein Eisen in einem Spalt, ziehe mich an einem unguten Griff nach oben, rutsche ab, falle ins Seil. Fuck! Das kann doch nicht…! Jan gibt Tipps von oben: „Jetzt die linke Hand an den Griff rechts, dann hoch und die rechte Hand in den Riss darüber.“ Ich versuchs, es fühlt sich seltsam an. Es klappt wieder nicht. Bevor ich noch mehr Zeit verplempere, setze ich mein Eisen auf den Bohrhaken und lasse mich von Jan ein Stück nach oben ziehen. Beim nächsten Zug halte ich mich an der Exe fest. Seis drum, ich will ja nur noch oben und keinen Schönkletterpreis gewinnen.

Geschafft! Die wildeste Kletterei ist erledigt. Die Wolke ist weg. Tatsächlich ist die Wolke weg! In jeder Richtung geht es tief hinunter ins die Täler, in jeder Richtung sehe ich Berge. Überall diese fröhlichen Farben, diese lebendigen Kontraste. Im Lötschental unten der pyramidenförmige Schatten des Berges, auf dem ich gerade herum klettere. Was für ein Anblick. Kurzzeitig ergreift mich Ehrfurcht. Respekt hatte ich die ganze Zeit vor dieser Tour, doch jetzt fährt ein Gefühl durch mich hindurch, das mich tief ergreift. Es ist keine Angst, nein. Jetzt fühlt es sich viel eher so an, als würden der Berg und ich gerade eine gute Freundschaft beginnen. Wie eine Botschaft zur Versöhnung reicht er mir die Hand, zeigt mir für einige Minuten sein wildestes Antlitz in voller Pracht, und geht dann wieder dahin, verabschiedet sich erneut in einer Wolke.

Nicht mehr weit und wir erreichen den Vorgipfel. Ab und zu haben wir schon in den Westgrat, unsere Abstiegsroute, hineinsehen können. Kletterer haben wir keine gesehen, obwohl einige Bergsteiger wohl heute von der Bietschhornhütte über den „Westi“ aufgestiegen sein sollen. Seltsam. Vermutlich haben wir uns um etwa eine Stunde verpasst. Vom Vorgipfel bis zum Gipfel geht es über einen nochmals sehr schlanken Grat. Nach sieben Stunden sind wir endlich oben und geniessen den nicht vorhandenen Blick in die Umgebung. So richtig entspannt ist das nicht und soll es auch nicht sein. Jetzt ist Halbzeit. Jetzt ist nochmals vollste Konzentration gefragt, bis wir 1400 Meter unter uns bei der Bietschhornhütte ankommen sollten.

Ein halb gefrorenes Brötchen, ein paar Nüsse, etwas Studentenfutter aus einer aufgeplusterten Packung, wir teilen uns ein Snickers. Neue Energie!

Zurück geht es zum Vorgipfel und wir steigen ein in den Westgrat. Die Sonne bläst die Wolke immer wieder hinfort. Was für ein Wahnsinns Blick in diese rötlichen Felsen! Was für ein geniales Wetter, und das bei diesen Aussichten! Wie viel Glück können wir eigentlich noch haben?

Die oberen Stellen des Westgrats sind teilweise furchtbar ausgesetzt und toppen in dieser Hinsicht den Nordgrat noch ein wenig. Wir haben die Steigeisen nun ausgezogen, denn der Grat ist trocken - faszinierend, was die Ausrichtung und die Sonne in kurzer Zeit bewirken. Meine Hände umgreifen griffige Granitkanten, meine Füsse balancieren über Felszacken, die auf der Gratseite hinausragen. Darunter geht es senkrecht hunderte Meter in die Tiefe. Es ist ein Gefühl, das man nicht in Worte fassen kann. Eine seltsame Mischung aus betörendem Adrenalin, einem wachen Gehirn und einem Gefühl der Sicherheit, das ich hier nicht erwartet hätte und mich immer wieder überrascht. Es macht verdammt noch mal so viel Spass!

Trotz der spassigen Kletterei dauert der Abstieg gefühlt eine Ewigkeit. Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen nicht ganz klar ist, wo man am besten klettern sollte. Oben drüber? Links vorbei? Rechts vorbei? Oder gar ganz ausweichen in die brüchige Flanke? Wir machen das einmal, weil wir meinen, Gehspuren gesehen zu haben. Wir kommen zu weit ab - nicht gut! Immer wieder lösen sich Felsbrocken und poltern hunderte Meter hinunter. Ein etwas grösserer reisst tief unten viel anderes Geröll mit sich. Es poltert und kracht. Eine riesige weisse Staubwolke steigt unten auf. „Zurück zum Grat!“ - raus aus dieser Schutthalde, so schnell wie möglich!

Dort geht es besser, auch wenn wir langsamer sind. Wenn die Kletterei zu schwierig wird, sind wir falsch. Wir korrigieren, finden irgendwie einen Weg. Erste Stress-Symptome zeigen sich. Ganz so locker sind wir nicht mehr drauf wie zu Beginn. Eigentlich wollen wir beide nur noch runter - nach mittlerweile 12 Stunden auf Tour ein naheliegender Gedanke. Auf etwa 3500m Höhe finden wir einen Weg in der Südflanke, der ganz gut zu gehen ist, etwa 100 Höhenmeter hinunter bis zum Punkt, an dem wir den Grat nach Norden verlassen. Hinunter geht es über eine wilde, geröllige Schuttflanke. Hier löst sich alles, auf was man tritt. Es ist nicht mehr so steil und nicht mehr so gefährlich, aber wir sind froh, als wir endlich unten am Gletscher ankommen. Endlich aus dem gröbsten raus! Ein ehrfürchtiger Blick zurück auf das Monstrum hinter uns, von dieser Seite eine wilde Geröllhalde, wenig elegant, aber mächtig.

Jetzt „nur“ noch hinüber zum Bietschjoch und dann hinunter zur Hütte. Ich bereite mich gedanklich schon darauf vor, dort noch einmal zu übernachten, denn es ist bereits 17 Uhr. Ich hatte mich beim Abstieg einmal hingelegt, mir das Knie angeschlagen und den Finger aufgerissen. Ein bisschen Fluchen hat geholfen. Auf dem Eis des Gletscherrests haut es mich nochmal hin. Fuck! Zum Glück wieder nichts passiert.

Der Weg zum Joch verläuft an den Felsen entlang zunächst über Firn, dann über Geröll und Eis. Nicht schön. Wir versuchen verschiedene Wege. „Wüst“, kommentiert Jan. Ich gehe „oben rum“, lande auf dem Grat, der zum Schafberg führt. Schon wieder so ein Grat! Mittlerweile bin ich genug an Graten herum geklettert. Aber zum Glück komme ich am selben Ort raus, wo Jan bereits wartet.

Am (gut markierten) Bietschjoch holen wir das Handy raus und rufen bei der Hütte an. Ob wir da noch was zu essen kriegen und übernachten könnten. Schlechte Nachrichten: Keine Gäste heute, daher kein richtiges Essen, aber etwas Kuchen, Brot und Käse habe er da. Schaun wir mal. Erst mal hinkommen!

Immer noch trennen uns 600 Höhenmeter von der Hütte. Da unten liegt sie und wartet auf uns. Der Abstiegsweg vom Joch ist steil. Nicht mehr gefährlich, aber sandig. Er verlangt trotz allem volle Aufmerksamkeit. Ich bemühe mich, auf jeden Schritt zu achten, denn ich weiss, dass gerade hier bei solchen Sachen die schlimmsten Unfälle passieren. Und dann passiert es tatsächlich: Ich merke gerade noch, wie mein Fuss abrutscht - dann haut es mich hin, überschlage mich, falle etwa zwei Meter hinunter, drehe mich einmal komplett herum, mein Knie schlägt auf einen Felsen. Ich richte mich auf, denke, das ist es jetzt gewesen, denke, das ist jetzt das Aus, denke, jetzt muss ich noch abtransportiert werden, denke, mein Knie - mein eh schon angeschlagenes - ist jetzt ganz hinüber. Ich richte mich auf, bewege das Knie, es bewegt sich noch. Es schmerzt. Ich fluche mir die Seele aus dem Leibe. Jan ist schon weiter unten und ruft ich solle mich beruhigen. Mich beruhigen! Fuck! Mein sch**ss Knie ist im Arsch, mein Schienbein geprellt, meine teuren Leki-Wanderstöcke (das Carbon-Topmodell) sind geborsten. Mann… und das kurz vor der Hütte, nur eine halbe Stunde entfernt!

Dennoch… als ich mich zusammenreisse und mehrmals durchatme, kommen sie wieder, die guten Gedanken. Die guten Gedanken, dass ich diesen Berg bezwungen habe, diese majestätische Pyramide, die ich schon aus so vielen Perspektiven immer wieder gesehen habe. Die guten Gedanken an die Kletterei, an die Erlebnisse der letzten Stunden. Die Gefühle, die mich durchströmten, als wir unsere Freundschaft festigten. Es ist jetzt nicht mehr das Bietschhorn, das mir meine Grenzen zeigt. Ich bin es selbst, der sie überschritten hat.

Ich hasse mich nicht mehr wie noch gerade eben, als ich über mich fluchte, weil meine Konzentration nachliess, weil meine Oberschenkel und Waden ausgelaugt waren. Es ist eben so, nicht zu ändern. Mir geht es gut. Ich kann noch alles bewegen. Die Wanderstöcke sind nur Geld. Was ist schon Geld? Was sind ein paar Wanderstöcke gegen meine Gesundheit? Was ist das alles gegen das Glück, das mir gerade die Hand reicht, das mich wieder aufstehen lässt, das mich weitergehen lässt, das mich ins Tal kommen lässt… humpelnd zwar, aber mit neuer Energie. Das letzte Stück schaffe ich jetzt auch noch!

Von nun an ist alles gut. Ich komme bei der Hütte an, Jan ist schon da und hat mit dem Wirt gesprochen. Das Wetter für die heutige Nacht sieht nicht gut aus. Er rät uns, lieber noch die 1000 Höhenmeter ins Tal runter zu steigen. Wir können es auch noch auf den Bus um 20:30 Uhr schaffen und wären um Mitternacht zuhause. Das wäre doch was. Obwohl ich mich schon darauf eingestellt habe, in der Hütte zu bleiben, denke ich mir jetzt, dass mich diese zusätzlichen 75 Minuten auch nicht mehr umbringen werden. Ausserdem habe ich Sorge, dass das Knie am nächsten Tag schlimmer sein könnte als jetzt. Jan muss morgen arbeiten, er muss ohnehin nach Hause. Ich habe mir frei genommen, dafür bin ich schon jetzt dankbar.

Der Hüttenweg ist sehr gut zu gehen. Der Hüttenwart hat Jan zwei Stücke Apfelkuchen geschenkt. Er schmeckt so lecker und luftig und süss - eine wahre Energiebombe! Schnell geht es hinunter, immer tiefer. Das Wetter bleibt gut. Das Knie hält sich wacker. Meine Oberschenkel brennen - so schlimm hatte ich das schon lange nicht mehr. Meine Grenzen sind jetzt weit überschritten, aber wir schaffen es zügig hinunter. 2500 Höhenmeter Abstieg. Um kurz vor Acht sind wir an der Bushaltestelle in Ried, sitzen auf dem Bänkchen, reden über unsere GEILE Tour. Mein Knie schmerzt und brennt, die Hose ist blutig geworden. Ein bisschen desinfizieren, ein Pflaster drauf, an was anderes denken. Es geht gut. Nach 3x Umsteigen sind wir in Basel. Mein Rückweg mit ÖV bleibt mir verwehrt, ich bin zu spät. Ich nehme das Taxi. 42 Franken für 10 Minuten Fahrt. Was solls. Diese Tour ist mehr wert als jedes Geld dieser Welt.

Danke, Jan, dass wir das gemeinsam erleben durften. Es war der absolute Ober-Hammer!

Danke, Jolanda, für die wunderbare Gastfreundschaft und für deine Wachsamkeit. Danke für deinen Anruf, um dich zu erkundigen ob es uns gut geht. Du bist eine Hüttenwirtin, wie man sie sich besser nicht wünschen kann. Wir kommen gerne wieder!


Anmerkung: Der Zacken im Höhenprofil ist ein Fehler in der GPS-Aufzeichnung.

Das kann man brauchen
Mittlerer Teil des Firngrates
Kurz vor Ende Firngrat
Jetzt geht der Grat los
Schöne Tiefblicke
Da kamen wir her
Doldenhorn, Fründenhorn, Blümlisalp
Am 3. Turm
Schweres Ding!
Gletscher, Hütte, Jägihorn dahinter
3. Turm dank Jan geschafft!
Nach dem 3. Turm kommt kurz die Sonne raus
Aletschhorn voraus
Gipfelgrat - leider wieder in der Wolke
Yeah! 7 Stunden bis hier. 7 Stunden to go.
Links oder rechts?
Es geht immer steil hinunter
Halo-Regenbogen in der Tiefe
Der graue Turm
"Gehgelände"
Aus dem gröbsten raus
Bietschhornhütte
Abschiedsblick
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